Die Waldmenschen

 

Es war einmal, auf einem fernen Planeten -­‐ oder es mag sogar unser eigener gewesen sein, lange lange vor unserer Zeit, so daß die Spuren der damaligen Lebensformen längst unauffindbar verwischt worden sind -­‐ da trug es sich zu, daß die gesamte Landmasse von einem riesigen Laubwald bedeckt war, riesig im wahrsten und doppelten Sinne des Wortes, denn nicht nur war die Ausdehnung des Waldes immens, ja auch die Höhe und Dimensionen der einzelnen Bäume sprengten jeden Vergleich zu den heutigen Vertretern dieser Art, würden doch selbst unsere prächtigsten Mammutbäume nur wie Schößlinge gegenüber diesen Riesen des Waldes gewirkt haben. Von diesen ging ein feiner Duft aus, der den ganzen Wald aufs Lieblichste erfüllte und dessen Inhaltsstoffe wohltuend auf Geist und Körper der übrigen Bewohner wirkten. Vor allem aber trugen diese unglaublichen Lebewesen als stolze Baumkrone in mehreren Schichten übereinander fast waagerecht gedrehte gigantische Blätter, die meistenteils über zahlreiche Rankpflanzen nahtlos miteinander verbunden waren, so daß sich aus der Vogelperspektive eine durchgehend grüne Landschaft darbot, die sich von Meer zu Meer über den halben Planeten hin erstreckte. So hatten sich denn im Laufe der Zeit, gemäß dem unerhörten Wachstum dieser erstaunlichen Pflanzen, insbesondere zwei spezifische Biotope herausgebildet, eines oben in den Wipfeln auf den großen Ästen und Blättern, das sich der Sonne entgegenstrecken durfte, sich jedoch auch dem Wind und Wetter stellen mußte, der dort oben mitunter recht böig wehen konnte, und eines ganz unten am antipodisch gelegenen Boden, in einem diffusen grün-­‐ weißen Licht, gerade hell genug, um einigermaßen gut sehen zu können, dafür gleichwohl weitestgehend geschützt vor Kälte und harter Witterung. Die kluge Mutter Natur hatte nämlich dafür gesorgt, daß die einzelnen Baumriesen durch regelmäßige, weitestgehend runde Löcher in ihrem Blätterwerk genügend Licht und Feuchtigkeit nach unten hin durchließen, wobei gegebenenfalls mehrere der recht großen grünen Fächerdurchlässe konzentrisch übereinander lagen, um dort unten in der Ferne weitere, für den Bodenstoffwechsel nützliche Pflanzen und Pilze gedeihen zu lassen, die wiederum den eigenen Wurzeln und deren Nahrungsaufnahme sehr zupasse kamen. Dieser Idee folgend hatten sich auf ebenso natürliche wie anmutige Weise auch andere Vertreter der Spezies Flora und Fauna diese kostenlose Vergünstigung nicht entgehen lassen wollen und siedelten nun dort unten in stiller Eintracht zahl-­‐ und artenreich am Fuße der großen Brüder. Umgekehrt hatten es viele ihrer Verwandten vorgezogen, den Großen gleich frische Höhenluft zu schnuppern, und so waren sie vor und seit Jahrhunderten einfach mit in die Höhe gewachsen, wo inzwischen ebenfalls tausende von kleineren und mittelgroßen Arten in schöner Synergie mit ihren Wirten vergnügt vor sich hin vegetierten. Eher spärlich besiedelt waren dahingegen die Etagen dazwischen, wenn überhaupt, dann von kleinen, aus diversen Sukkulenten, Flechten und Moosen bestenden Kolonien, die mit wechselndem Erfolg versuchten, direkt an den astlosen und glatten Stämmen zu haften, um dem Treiben im Scheinwerferlicht zu ihren Häuptern und Füßen von ihrer Ehrentribüne, so sahen sie das jedenfalls, gelassen zuschauen zu können. Wo viel Angebot, da auch viel Nachfrage, das galt schon weiland, und diesem Gesetze folgend gab es selbstverständlich auch diverses munteres Getier, tagaktives sowie nachtaktives, Pflanzen-­‐ und Fleischfresser, das da auf den verschiedenen Ebenen kreuchte und fleuchte, oft am Boden, selten in der Mitte, und wieder des öfteren weiter oben unterhalb bzw. noch etwas weiter oben oberhalb des grünenden Blätterdachs. Doch nicht nur die Bäume hatten dort ihre Kronen, auch die Schöpfung selbst hatte sich herbeigelassen und ihren persönlichen majestätischen Kopfschmuck im und auf dem Walde heimisch werden lassen, denn gemäß dem Grundsatz der Hermeneutik lebten sie dort wie oben, so unten, jeweils eine ansehnliche Population, die sich aufs beste dem Leben unter diesen für unsere Begriffe doch etwas kuriosen Umständen im Unterholz bzw. Oberholz angepaßt hatte. Unseren Blick wollen wir denn nun auch zuerst auf die Bewohner des Dachgeschosses richten, die mit dem schönen Ausblick, denn dort warf seinerzeit ein großes Ereignis seine Schatten voraus, und zwar zunächst auf die Miene des dienstältesten Schamanen. Seit Jahrhunderten lebten sie nun dort oben in Ruhe und Frieden, es gab keine natürlichen Feinde, kaum Krankheiten und Unfälle, Nahrung zu jeder Jahreszeit, auch ausreichend Holz zum Bauen der Unterkünfte, denn wie alle Naturvölker entnahmen sie der Natur niemals mehr, als diese jeweils bereitstellen konnte, und so hatten sie sich langfristig ihre überall um sie herum nachwachsenden Rohstofflieferanten erhalten; selbst Wasser gab es zur Genüge in den zahlreichen fanfarenartigen Kelchen, die die Riesen zum Einfangen des Regenwassers ausgebildet

hatten, um sich selbst besser mit diesem für alle lebenswichtigen Naß zu versorgen und ihr Kapillarsystem zu entlasten, das nur langsam von den Wurzeln her zäh nach oben fließend die wichtigsten Mineralien bis hin zu den Spitzen hinaufdiffundieren konnte. Neben eßbaren Pflanzen und Früchten fanden sich auch jagdbare Kleintiere, es war also für alles gesorgt. Nicht einmal auf die Lichtschächte mußten sie besonders achtgeben, denn diese waren aus Gründen der blatteigenen Stabilität von einem hohen Rand gesäumt, der den Bewohnern wiederum als natürliche Schutzmauer vor dem Bodenlosen diente. So konnten denn die geübteren unter den Wipfelbewohnern tagelang umherziehen, ohne jemals an irgendeinen Abgrund zu stoßen und etwa befürchten zu müssen, sie würden beim nächsten Schritt für immer vom Blätterdach hinunterfallen. Das Bearbeiten des Holzes wie auch die Herstellung des Jagdgerätes erfolgte in erster Linie durch die Verwendung getrockneter messerscharfer Vogelschnäbel, die sie auf den Friedhöfen einer Spezies großer Flugmeister einsammeln konnten, durch anschließendes Einreiben mit einem speziellen Pflanzensaft aushärteten und damit zugleich gegen den natürlichen Verfall konservierten. Ins Holz hineingetrieben stellten sie so schnell alle benötigten Schneidwerkzeuge, Nähnadeln und sonstigen Utensilien her. In einem Punkt jedoch lebten sie noch ganz vom Erbe ihrer bodenständigen Vergangenheit: denn ihre Feuer entzündeten sie in aus Metall geschmiedeten großen Schüsseln, die sie entweder auf Vertiefungen im Wasser schwimmen ließen, auf einen Dreifuß stellten oder an Ketten herabhängen ließen, um den lebenden Untergrund nicht selbst zu verbrennen. Das war auch all die Jahre problemlos gut gegangen, das Metall war beständig und wurde seit Generationen aufs Sorgfältigste gepflegt. Dennoch war es dem Schamanen, der zugleich auch oberster Metallurg war, nicht entgangen, daß sich diese dringend benötigten Gerätschaften allmählich in den Ruhestand begeben wollten. Nun hatten sie seit alters her keine Schmiede mehr gesehen, denn solange noch der Handel mit der anderen Welt geblüht hatte, war dies nicht nötig gewesen, sie konnten das Metall gegen Pflanzen von oben eintauschen, die es dort unten nicht gab, wie die allezeit sehr beliebten goldgelben süßen Früchte, Aam genannt, die nur bei ihnen in lichter Höhe und bei ausreichend Sonnenschein wuchsen und deren Geschmack schlicht unwiderstehlich war, oder besagtem Pflanzenextrakt zur Pflege des Metalls, der bei allen Schmieden zur Perfektion der eigenen kunsthandwerklichen Arbeiten heiß begehrt war. Im Laufe der Zeit war allerdings der herzliche Kontakt zu den Brüdern und Schwestern am Boden nach und nach abgebrochen, zu beschwerlich waren wohl der langwierige Ab-­‐ und Aufstieg bzw. Auf-­‐ und Abstieg, zu unterschiedlich bald die jeweiligen Lebensgewohnheiten und vorrangigen Interessen, man hatte schließlich mit sich selbst genug zu tun, und zu verschieden waren denn auch die mikroklimatischen Bedingungen, die es den nachfolgenden Generationen aufgrund der jeweils anderen Luftzusammensetzung schier unmöglich machten, sich für länger als eine kurze Zeit vollauf wohlbefindlich auf dem Niveau der anderen Familien aufzuhalten. Daher war auch der Metallfruchthandel langsam zum Erliegen gekommen, unten gab es schließlich noch andere Köstlichkeiten, und oben konnten sie weiter wie bisher auf die Unzerstörbarkeit ihrer Schüsseln vertrauen, die als Familienschatz von Generation zu Generation weitergegeben worden und heute noch neu wie am ersten Tage waren. Gewesen waren. Denn das Auge des Meisters sieht mehr als das Auge des Laien, und so schwante ihm nun, sein frohes Gemüt überschattend (wir hatten es oben angedeutet), daß spätestens in ein paar Monaten, womöglich schon früher, die ersten Löcher erscheinen würden, Bruchstellen vielleicht sogar, nicht auszudenken, wenn die größeren Feuer ausbrechen und sich auf den Blätterboden oder gar das trockene Unterholz weit unter ihnen ergießen würden. Er begab sich also zum Stammesfürsten, um das weitere Vorgehen mit ihm zu besprechen. Sie waren sich schnell einig, daß es nur eine Lösung geben konnte: eine Expedition mußte sich nach unten begeben und metallenen Nachschub besorgen. Nur wußten sie natürlich nicht, ob es die andere Sippschaft überhaupt noch gab und wie sie dort empfangen werden würden; somit wurde gleichfalls einhellig beschlossen, erst einmal eine diplomatische Vorhut hinab zu senden, um alles vorzubereiten und das weitere in die Wege zu leiten. Da traf es sich nur zu gut, wie sich ja überhaupt im Leben allermeistens alles nur zu gut trifft, wenn man genau genug hinsieht, um dessen gewahr zu werden, daß der Häuptling drei erwachsene Söhne hatte, zwischen denen er ohnehin bald seinen Nachfolger auswählen mußte, denn dies geschah nicht einfach in der Reihenfolge ihres Auftretens nach Alter, sondern aus naheliegenden Gründen nach Einsichtsvermögen, dergestalt, daß bei fehlendem solchen die reiferen Söhne anderer hochgestellter Familien ohne zu zögern den Vorzug bekommen hätten. Nun sollten also der Mut und das

Verhandlungsgeschick der drei Sprößlinge gleichermaßen auf die entscheidende Probe gestellt werden -­‐ entscheidend für sie, entscheidend für ihr Volk. Der Schamane, Hüter aller Geheimnisse, wußte noch um einige alte Verbindungswege, die ihre Vorfahren innerhalb einiger Stämme bis nach unten führend angelegt hatten, die aber durch Nichtbenutzung und weiteres Wachstum der Wirte nunmehr unerreichbar geworden waren; daher wurden drei möglichst weit voneinander liegende Stämme ausgewählt und auf seine Anweisungen hin oberhalb der alten Stiegen neu geöffnet; in mühsamer Kleinarbeit gelang es schließlich, neue Wendeltreppen hinab ins Holz zu schlagen, bis der Durchbruch zu den antiken Gängen geschafft war. Alle drei Kandidaten wurden sodann noch ausgestattet mit einigen der beliebten goldgelben süßen Früchte, einerseits als Wegzehrung, andererseits als Zeichen der Freundschaft und Angebot zum Einleiten des erhofften baldigen Tauschhandels, nebst einem kleinen Schlauch Pflanzenextrakt zur Metallveredelung und einem weiteren Saft zur Stärkung des Immunsystems gegen den befürchteten Klimawandel, und alsdann feierlich nach unten verabschiedet. Nun mußte jeder der drei Jungmannen seinen Weg alleine gehen, denn so war es ausgemacht.

Der Älteste stieg also wacker hinab, darauf achtend, die eventuell verstopften Licht-­‐ und Luftlöcher wieder freizuschlagen, da jedoch in dieser Höhe wie auch weiter unten nicht allzu viele andere Pflanzen mehr unterwegs waren, brauchte er sich fast nie zu bemühen und konnte sich sowohl auf seinen sicheren Abstieg als auch auf seine noble Aufgabe konzentrieren. Insgeheim jedoch spielte er beim spiralförmigen Abwärtssteigen mit einem anderen Gedanken: darin sah er sich nicht so sehr als der gewiefte Unterhändler, sondern eher als zukünftiger König beider Reiche. Überzeugt von der eigenen Stärke wollte er genau ausspionieren, wie mächtig jene Familie war, und dann bei nächster Gelegenheit mit seinen Getreuen das Ruder auch hier an sich reißen. Metall hätten sie dann so viel sie wollten, und zwar nur für sich, das bedeutete die alleinige Macht! So steigerte er sich langsam immer weiter in seinen Rausch hinein, je weiter er nach unten kam, bis er plötzlich, nach ungezählten Umdrehungen, unten in einem kleinen Vorraum eintraf, wo er jedoch vor lauter Drehwurm dem oben begonnenen Trotte folgend in seinem Kreise einfach weiterlief und infolgedessen, anstatt wie geplant die nächste Kurve zu durcheilen, ziemlich unsanft die Bekanntschaft der an dieser Stelle noch im Originalzustand belassenen Baumstamminnenseite machte, was nicht nur ihn selbst nach einigen tausend Treppenstufen unangenehm heftig auffrischte, sondern auch sein Gedächtnis, welches ihm nun in schnellster Abfolge die schönste ihm bekannte Auswahl unflätiger Ausdrücke frei Haus lieferte, derer er sich denn auch gleich lautstark und fleißig bediente. Plötzlich hielt er inne, besann sich seiner Mission und fluchte leise weiter, den Architekten des abrupten Treppenendes verwünschend, während er sich im Schummerlicht umzusehen begann. Bald erkannte er vor sich eine etwas verwitterte Wand, in der gleichwohl noch das doppelflügige Eingangstor auszumachen war. Wie es so seine Art war, drückte er gleich mit ganzer Kraft dagegen, was aber nichts bewirkte, um dann schließlich genervt einen gezielten Fußtritt auf den in der Mitte erkennbaren Türspalt abzugeben. Umsonst. Nach einigen weiteren ebenso kräftezehrenden wie vergeblichen Versuchen der Anwendung roher Gewalt, die er so liebte, entsann er sich schließlich seines Messers und begann, die Tür Stück für Stück abzuhobeln. Die Wut half ihm dabei. Endlich schien ihm die Pforte williger geworden zu sein, und tatsächlich, der nächste Tritt triumphierte, die Tür sprang gleich ein Stückchen weit auf, um dann sanft von einem hinter ihr liegenden grünen Busch ihm unbekannter Art und Güte abgefangen zu werden. Es reichte, um sich hindurchzuzwängen. Ha! Sieg der Kraft über die Natur, durchfuhr es ihn. Einmal draußen angelangt, mußte er sich weiterhin mit der für seine Begriffe recht stickigen Luft begnügen, anstatt wieder die erhoffte Frische genießen zu dürfen, wie er sie oben zurückgelassen hatte, schwülwarm war es auch, kein Lüftchen wehte, und die Sicht war irgendwie leicht verschleiert. Der atmosphärische Unterschied, so bemerkte er intuitiv, war damals wohl der Hauptgrund für den Abbruch der gegenseitigen Besuche gewesen, er empfand das hiesige Klima einfach nur als drückend und unangenehm und beschloß sogleich, seine zukünftige Residenz auf jeden Fall nur oben zu bewohnen. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem ihm eigens für diesen zweck zur Verfügung gestellten Schamanentrunke und wartete noch ein Weilchen, bis er sich besser akklimatisiert und ein leichter Hustenreiz wieder nachgelassen hatte, den er sodann zum Anlaß nahm, sich mit stiller Schadenfreude auszumalen, wie ihrerseits die Bodenbewohner ganz oben auf dem Dach der Welt ob des dortigen Reizklimas mit nachlassenden Kräften gnadenlos Wind und Wetter zum Opfer fallen würden. Derart zufriedengestellt fand er sich schnell wieder im

Vollbesitz seiner eigenen Kräfte und Konzentration und konnte sich umsichtig auf den Weg machen, er wollte auf keinen Fall jemanden auffallen, jedenfalls nicht sofort. Nach kurzer Strecke auf dem alten hatte er bald einen neuen und größeren Pfad ausgemacht, offenbar von Menschenhand und -­‐ fuß gestaltet, der ihn denn auch auf eine Siedlung zuführte. Die Hütten waren aus anderem Holz gemacht als diejenigen oben, denn hier nahmen die Bewohner mit dem Holz aus kleineren, nachwachsenden Bäumen vorlieb; die Riesen bildeten unten keine Äste aus, die sie hätten verwerten können, und einen ganzen Megamammut zu fällen wäre nicht nur technisch kompliziert, sondern ihnen als ungeschriebenes Sakrileg auch gar nicht erst in den Sinn gekommen, so wie oben teilten sie die große Ehrfurcht vor den Riesen und ahnten mehr, als daß sie es wußten, wie das gesamte Gleichgewicht des Waldes und damit auch ihre Existenz nur von diesen grandiosen Geschöpfen und ihrem Ergehen abhingen. In ihren braunen Farbtönen fügte sich die Siedlung ebenso wie ihre Gegenstücke im Penthouse nahtlos und harmonisch in die sie umgebende Natur ein, so wie es auch unser gestandener Jägersmann aus den Wolken verstand, der sich ungesehen von Mensch und Tier weiter voranschlich. Sein eigenes Augenmerk weniger auf die Architektonik als auf die Architekten gerichtet, hatte er sich noch in einiger Entfernung vom Dorf seitlich ins Gebüsch geschlagen, pirschte sich langsam immer näher heran -­‐ und dann sah er sie nun endlich, seine Vettern! Etwas blaß um die Nase, bemerkte er spöttisch zu sich selbst, aber ansonsten hatten sie die gleiche Physiognomie wie seine eigenen Leute. Er versuchte, ihren Gesprächen zuzuhören, aber noch war er zum Lauschen zu weit entfernt, die Wortfetzen, die zu ihm herüberwehten, verrieten jedoch zumindest eine ihm bekannte Sprachmelodie. Er stellte gleich fest, daß sie unbewaffnet waren, wie auch die Siedlung keinerlei Befestigung aufwies. Einen weiteren Bogen schlagend schob er sich schließlich im Halbschatten in eine Lücke zwischen zwei Hütten hindurch und lugte von dort vorsichtig in das Dorfinnere hinein. Es sah dort nicht viel anders aus, als er es erwartet hatte, die übliche Ansammlung an Gerätschaften, ein Brunnen ... und auf der anderen Seite eine überdachte Feuerstelle, die sogleich seine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Er schob sich zurück, huschte einen Halbkreis ziehend durch das Gehölz und tauchte an der Hinterseite besagter Stelle wieder auf. Das Schicksal war ihm hold oder wollte ihn auch nur auf die Probe stellen, jedenfalls war im Moment kein Mensch mehr zu sehen, und so wagte er es, die Werkstätte persönlich näher zu inspizieren. Seine geübte Nase roch, sein scharfes Auge sah sofort das feine Metall, das in verschiedenen Formen und Größen an den Wänden aufgestapelt war; daneben ein Steinofen und allerlei Werkzeug: tatsächlich, dies mußte eine der sagenumwobenen Schmieden sein, von denen ihnen der alte Schamane erzählt hatte. Er konnte alles gleich richtig zuordnen, abgesehen von der Metallverarbeitung als solcher schienen sie hier technisch auf demselben Stande zu sein wie sein Volk droben. Als er zur Kontrolle kurz auf den Dorfplatz blickte, sah er von dort drei Gestalten langsam auf die Werkstatt zukommen. Er schob sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht und ging ruhig unter dem Dach hervor, dicht an der Hauswand entlang, in die seinen ungebetenen Besuchern entgegengesetzte Richtung. Diese folgten ihm jedoch. An der Ecke angekommen beschleunigte er sofort und verschwand im Wald. Diesmal jedoch hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn auch die anderen waren geübte Jäger, und neugierig obendrein ob der ungewöhnlichen Erscheinung in der fremdartigen Kleidung, die sie da bei sich in der Schmiede ausgemacht hatten. Ein kurzes Wettrennen setzte ein, bei dem unser Ältester indessen schnell feststellen mußte, den Kürzeren gezogen zu haben, denn zum einen kannte er sich nicht genügend aus und verlor Zeit mit Hakenschlagen, zum anderen machte das Klima seiner Kondition zu schaffen. Kurz entschlossen blieb er also stehen und drehte sich um, sollten sie doch kommen. Seine Hand suchte nach dem Vogeldolch in seinem Gewand. Der erste der drei, der als nächstes an ihn herangekommen war, hatte sich just in diesem Moment zu einem Sprung bereitgemacht und segelte dem Oberjäger bereits in Augenhöhe entgegen. Es kam zum Zusammenprall der zwei etwa gleich großen und starken Männer, und obgleich der fliegende Jäger gar nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als den Flüchtling einfach nur sportlich zu stoppen, sah er sich jetzt beinharten Faustschlägen ausgesetzt, und wer weiß, wenn ihm die anderen beiden Gefährten nicht sofort helfend zur Seite gestanden hätten, wäre ihn dieser Überraschungsangriff vielleicht noch sehr teuer zu stehen gekommen. Aber auch so hatten sie alle Mühe, dem entfesselten Vetter Herr zu werden, der es schließlich doch noch schaffte, sich irgendwie loßzureißen, um sich im Schutze einer kurzen Verschnaufpause der zuverlässigen Dienstleistungen seines Gedächtnisses zu erinnern, welches ihm erneut die bewährte schönste Auswahl unflätiger Ausdrücke frei Zunge lieferte, derer er sich denn

auch gleich lautstark und fleißig bediente. So ungefähr konnten seine Berufskollegen sogar verstehen, was er da aus sich heraus tobte, seine Sprache hörte sich wie ein komischer Dialekt ihrer eigenen an. Sie schüttelten zunächst den Kopf ob der ihnen in ihrer Aggressivität unverständlichen Reaktion, hatten sie sich doch nichts zu Schulden kommen lassen, und verstanden erst recht nicht, auf welchen Treppenhausarchitekten er jetzt gerade schimpfte, der mit ihnen verwandt sein sollte; schließlich jedoch wurde es ihnen zu bunt, und der ehemals fliegende Jäger klaubte kurzerhand einen Knüppel vom Boden auf und schleuderte ihn geradewegs auf den großen Rohrspatz gegenüber. Dieser war zu sehr mit seiner Rezitation beschäftigt, um dem sich propellerartig auf ihn zudrehenden Objekt großartig auszuweichen, und mußte somit einen schmerzhaften Schultertreffer einstecken. Er bückte sich sogleich, um den Propeller zum Bumerang werden zu lassen, worin ihm die anderen jedoch nicht nachstanden und ihrerseits ebenso weitere Äste aufsammelten, woraufhin er, allein gegen drei, mit gezücktem Dolch und dem inzwischen zum Knüppel umfunktionierten ehemaligen Bumerang in spe zum Nahkampf überging, wobei er die weiteren gegen ihn gerichteten hölzernen Wurfgeschosse nunmehr geschickt abwehrte. Die Dreiergruppe, wenngleich in der Überzahl, hatte jedoch überhaupt keine Lust auf einen Kampf mit eventuell ernsthaftem Ausgang und trat daher den Rückzug an; so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie nun wieder im Dickicht Richtung Dorf. Unser Ältester ließ es dabei bewenden, er hielt sie allesamt für Feig-­‐ und Schwächlinge, eine leichte Beute für ihn und seine Mannen, und wandte sich zum Gehen. Bald hatte ihn sein erfahrener Spürsinn zurück zum Treppenbaum geführt, er trat ein, verschloß die Tür, setzte sich auf die unterste Stufe und genoß den Rest zermatschter Früchte aus seinem nassen Beutel. Trotz des anfänglichen Fehlschlages war er stolz auf sich, so viele militärisch nützliche Informationen in Erfahrung gebracht zu haben. Mochte doch sein Vater sagen, was er wollte, er würde mit seinen Leuten hier unten mal so richtig aufräumen und die hinterhältigen Schmiede auf immer und ewig für sich arbeiten lassen. Angekettet natürlich. Mit derlei Gedanken beschwert, fielen im die Augen zu, und er schlief ein, bevor er dann irgendwann, er wußte nicht, nach wie langer Zeit, erwachte und sich langsam und immer noch etwas müde auf den steilen Heimweg machte.

Und wie erging es derweil wohl dem mittleren Sohne? Auch er stieg wacker hinab, ohne großartig verstopfte Licht-­‐ und Luftlöcher wieder freischlagen zu müssen, und konnte sich sowohl auf seinen sicheren Abstieg als auch auf seine noble Aufgabe konzentrieren. Insgeheim jedoch spielte er beim spiralförmigen Abwärtssteigen mit einem den Ideen seines Bruders ganz analogen Gedanken: darin sah er sich zunächst -­‐ zugegebenermaßen ungleich diesem -­‐ durchaus als den geborenen Unterhändler und zusätzlich, gleich diesem, als den zukünftigen König beider Reiche. Überzeugt vom eigenen Wissen wollte er sehen, wie gebildet jene Familie war, und dann bei nächster Gelegenheit mit seiner Rhetorik das Ruder auch hier an sich reißen. Metall hätten sie dann so viel sie wollten, und zwar für beide Völker, vereint unter seiner Hand! So steigerte er sich langsam immer weiter in seinen Rausch hinein, je weiter er nach unten kam, bis er plötzlich, nach ebenfalls ungezählten Umdrehungen, unten in einem kleinen Vorraum eintraf, wo er zunächst vor lauter Drehwurm dem oben begonnenen Trotte folgend in seinem Kreise einfach weiterlief, dann jedoch, plötzlich gewarnt von seinem scharfen Verstand, der die architektonische Veränderung und dessen wahrscheinliche Bedeutung mit einigen Millisekunden Verzögerung erkannt und sogleich den Befehl zu einem dementsprechenden Vollbremsmanöver an die Körpermotorik weitergeleitet hatte, ziemlich abrupt seinen Kreislauf stoppte (den äußeren, wohlgemerkt, nicht den inneren) und nun, infolgedessen, anstatt wie geplant die nächste Kurve zu durcheilen, die erfreulicherweise rein optische statt haptische Bekanntschaft der an dieser Stelle noch im Originalzustand belassenen Baumstamminnenseite machte, was ihn selbst nach den abertausenden von Treppenstufen nichtsdestotrotz angenehm heftig auffrischte, eine Erfahrung, die sein ohnehin hervorragendes Gedächtnis zum Glück gar nicht nötig hatte. Er hielt also plötzlich inne, besann sich seiner Mission und bewunderte den Architekten des abrupten Treppenendes ob seines Wagemutes, halb jedoch verwunderte er sich auch über diesen und jenen, während er sich im Schummerlicht umzusehen begann. Bald erkannte er vor sich eine etwas verwitterte Wand, in der gleichwohl noch das doppelflügige Eingangstor auszumachen war. Wie es so seine Art war, drückte er gleich mit sanfter Gewalt dagegen, was aber nichts bewirkte, um dann schließlich nach kurzem Nachdenken einen gezielten Fußtritt auf den in der Mitte erkennbaren Türspalt abzugeben. Umsonst. Er wog ab, ob es sich lohnte, noch einige weitere kräftezehrende wie vielleicht auch vergebliche Versuche der

Anwendung sich langsam steigernder roher Gewalt durchzuführen, die er gar nicht so sehr liebte, entsann sich dann aber schließlich seines Messers und begann, die Tür Stück für Stück abzuhobeln. Die Zufriedenheit ob seiner guten Idee half ihm dabei. Endlich schien ihm die Pforte williger geworden zu sein, und tatsächlich, ein erneuter Tritt triumphierte, die Tür sprang gleich ein Stückchen weit auf, um dann sanft von einem hinter ihr liegenden grünen Busch ihm unbekannter Art und Güte abgefangen zu werden. Es reichte, um sich hindurchzuzwängen. Ha! Sieg des Verstandes über die Natur, durchfuhr es ihn. Einmal draußen angelangt, mußte er sich wohlweislich weiterhin mit der für seine Begriffe recht stickigen Luft begnügen, anstatt wieder die vermißte Frische genießen zu dürfen, wie er sie oben zurückgelassen hatte, schwülwarm war es auch, kein Lüftchen wehte, und die Sicht war irgendwie leicht verschleiert. Der atmosphärische Unterschied, so bemerkte er klug, war damals wohl der Hauptgrund für den Abbruch der gegenseitigen Besuche gewesen, er empfand das hiesige Klima ebenfalls als drückend und unangenehm und beschloß sogleich, seine zukünftige Residenz auf jeden Fall nur oben zu bewohnen. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem uns bereits bekannten Schamanensaft und wartete noch ein Weilchen, bis er sich besser akklimatisiert und ein leichter Hustenreiz wieder nachgelassen hatte, den er sodann zum Anlaß nahm, sich mit Verwunderung auszumalen, wie ihrerseits die Bodenbewohner ganz oben auf dem Dach der Welt ob des dortigen Reizklimas mit nachlassenden Kräften gnadenlos Wind und Wetter zum Opfer fallen würden. Derart vorbereitet fand er sich schnell wieder im Vollbesitz seiner eigenen Kräfte und Konzentration und konnte sich umgehend auf den Weg machen, er wollte auf jeden Fall jemandem auffallen, und zwar am besten sofort. Nach kurzer Strecke auf dem alten hatte er bald einen neuen und größeren Pfad ausgemacht, offenbar von Menschenhand und -­‐fuß gestaltet, der ihn denn auch auf eine Siedlung zuführte, einige Kilometer entfernt von derjenigen, in welcher zur Stunde der ältere Bruder sein Glück versuchte. Die Hütten waren wiederum aus besagtem anderem Holz gemacht, was er mit Genugtuung zur Kenntnis nahm, implizierte es doch, daß sie hier unten die gleiche große Ehrfurcht vor den Riesen teilten wie sie droben. Unser gestandener Jägersmann aus den Wolken wanderte also weiter direkt auf das Dorf zu, in der Hoffnung, möglichst bald von Mensch und Tier entdeckt zu werden. Sein eigenes Augenmerk wandte sich schnell von der Architektonik den Architekten zu, als er nahe genug heran gekommen war, um sie endlich zu erspähen, seine Vettern! Etwas blaß um die Nase, bemerkte er analytisch zu sich selbst, aber ansonsten hatten sie die gleiche Physiognomie wie seine eigenen Leute. Er versuchte, ihren Gesprächen zuzuhören, aber noch war er zum Lauschen zu weit entfernt, die Wortfetzen, die zu ihm herüberwehten, verrieten jedoch zumindest eine ihm bekannte Sprachmelodie. Er stellte gleich fest, daß sie unbewaffnet waren, wie auch die Siedlung keinerlei Befestigung aufwies. Aufrechten Ganges schritt er voran, bis ihn lautstark eine Horde spielender Kinder begrüßte, deren Geschrei denn auch die Gespräche der Erwachsenen übertönt hätte, wären jene nicht ohnehin ob der gänzlich unerwarteten Ankunft des Fremden plötzlich verstummt. Er versuchte, die kleineren nicht sonders zu beachten und konzentrierte sich lieber auf die größeren Bewohner, die ihm inzwischen zahlreicher werdend entgegenströmten. Unterdessen hatte er auch schon einen Blick in das Dorfinnere geworfen. Es sah dort nicht viel anders aus, als er es erwartet hatte, die übliche Ansammlung an Gerätschaften, ein Brunnen ... und auf der anderen Seite eine überdachte Feuerstelle, die kurz seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, denn er erkannte darin sofort eine der sagenumwobenen Schmieden, von denen ihnen der alte Schamane erzählt hatte. Nun schob er sich seine Kapuze aus dem Gesicht und begrüßte die versammelte Dorfgemeinschaft. Ein älterer Mann trat ihm aus der Menge entgegen und erwiderte seinen Gruß. Er gebot dem Gast mit einer Geste, ihm zu folgen. So zog der ganze Troß ein paar Schritte weiter in eine überdachte Halle am Rande des Dorfplatzes, in der sie auf weichen Matten Platz nahmen. Dies kam ihm sehr gelegen, zehrte doch das ungewohnte Klima trotz Trankeshilfe an seinen Kraftreserven. Nach Austausch der gebotenen Begrüßungs-­‐ und Höflichkeitsfloskeln eröffnete er sodann der Versammlung, vom oberen Familienzweig zu stammen, um nach langer Zeit der Trennung die Begegnungen zwischen den beiden Völkern, das ja im Grunde nur eines sei, wiederzubeleben. Er schwärmte von den Vorzügen der gegenseitigen kulturellen Befruchtung und wechselseitigen Bereicherung des Alltagslebens durch die Güter der jeweils anderen Ebene; so hätten sie köstliche Früchte anzubieten, Heilpflanzen und Tinkturen zur Pflege des Metalls, ebenso wertvolle Schnitzereien aus Elfenbein, schöne Bekleidung und dergleichen mehr. Sicher, so schlußfolgerte er, hätten sie hier unten ein ebenso reichhaltiges Warenangebot und man

könne zukünftig zu beiderseitigem Vorteil einen regen Tauschhandel betreiben, ganz wie früher. Oben seien sie jedenfalls alle jederzeit herzlich willkommen. Trotz seiner wohlüberlegten Rede hatte er jedoch seinem Bruder gleich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn seine Gastgeber waren zwar auch geübte Handwerker und neugierig obendrein ob der ungewöhnlichen Erscheinung in der fremdartigen Kleidung, die sie da bei sich in der Versammlungshalle zu Besuch hatten, doch waren sie ebenso wie er selbst eher konservativ eingestellt und allen Neuerungen gegenüber zutiefst mißtrauisch. So entgegnete ihm denn der Dorfälteste höflich, aber bestimmt, sie wollten sich sein Angebot gerne überlegen, könnten jedoch nichts versprechen, denn soviele Veränderungen würden wahrscheinlich die gesamte in Jahrhunderten harmonisch zusammengewachsene Gesellschaftsstruktur verändern, neue Tendenzen setzen, deren Folgen sie weder absehen noch gegebenenfalls wieder rückgängig machen könnten, und obendrein eine Abhängigkeit von den neuen Lieferanten begründen, sollten deren Waren hier zum täglichen Gebrauch eingesetzt und dann dringend benötigt werden. Als Gast sei er natürlich herzlich willkommen, dürfe sich frei bewegen, solle aber vorerst keine Waren feilhalten. Nachdem sie sich noch weiter viel erzählt hatten über die Sitten und Gebräuche bei ihnen und er es auch nicht versäumt hatte, ihren gemeinsamen Urahnen, den Treppenhausarchitekten, lobend zu erwähnen, überkam ihn eine große Müdigkeit und er bat um Erlaubnis, sich ausruhen zu dürfen. Nach erfolgreichem Schläfchen, er wußte nicht, nach wie langer Zeit, erwachte er und begann, sich von seinen Verwandten zu verabschieden, wobei er versprechen mußte, bei nächster Gelegenheit wieder einmal vorbei zu kommen. Bald hatte ihn sein erfahrener Spürsinn zurück zum Treppenbaum geführt, er trat ein, verschloß die Tür, setzte sich auf die unterste Stufe und genoß von den frischen Früchten aus seinem Beutel. Trotz des anfänglichen Fehlschlages war er stolz auf sich, so viele diplomatisch nützliche Informationen in Erfahrung gebracht zu haben. Mochte doch sein Vater sagen, was er wollte, er würde mit seinen Waren hier unten mal einen richtigen Markt veranstalten und die verstockten Schmiede durch derlei Verlockungen auf immer und ewig an sich binden. Mit derlei Gedanken beschwert machte auch er sich langsam und immer noch etwas müde auf den steilen Heimweg.

Und wie erging es derweil wohl dem jüngsten Sohne? Auch er stieg wacker ohne Licht-­‐ oder Luftprobleme hinab und konnte sich somit sowohl auf seinen sicheren Abstieg als auch auf seine noble Aufgabe konzentrieren. Daher spielte er beim spiralförmigen Abwärtssteigen mit einem für seine Familienbande ganz neuen Gedanken: er dankte seinem Schöpfer, zu einer solch spannenden Expedition ausgewählt worden zu sein und bat inständig um dessen Unterstützung, sich dieser wichtigen Mission als Unterhändler seines Volkes würdig und gewachsen zu zeigen, auch im Namen seine Vaters und Stammesfürsten. Vertrauend auf sein Schicksal wollte er gerne sehen, wie jene Familie lebte, um dann, so Gott es wolle, in aller gebotenen Form sein Anliegen vorzutragen, denn er war sich der Bedeutung des Metalls für das Wohlergehen aller sehr genau bewußt. Zugleich bat er darum, daß zumindest seinen Brüdern Erfolg beschieden sein möge. So stieg er vergnügt in den endlosen Drehkreis hinein und mußte richtig aufpassen, vor lauter Spaß an der Freud nicht immer schneller zu werden, je weiter er nach unten kam, bis er plötzlich, nach den uns bereits bekannten zahllosen Umdrehungen, unten in einem den anderen beiden ganz gleich gestalteten kleinen Vorraum eintraf, wo er -­‐ konzentriert auf jeden seiner Schritte -­‐ sogleich seinen Kreislauf beendete und den einsetzenden Drehwurm dadurch alsbald wieder loswurde, daß er sich ein paar Mal schnell in die entgegengesetzte Richtung um die eigene Achse drehte, dem oben begonnenen Trotte zuwider. Als er so ausgependelt hatte, sah er vor sich die an dieser Stelle noch im Originalzustand belassene Baumstamminnenseite und freute sich, unten angekommen zu sein. Er beglückwünschte den Architekten des Treppenhauses ob der ergonomisch gestalteten Stufen und Winkel, die den Abstieg so mühelos hatten werden lassen, und sah sich im Schummerlicht weiter um. Bald erkannte er vor sich eine etwas verwitterte Wand, in der gleichwohl noch das doppelflügige Eingangstor auszumachen war. Wie es so seine Art war, drückte er nach kurzem Überlegen vorsichtig dagegen, was natürlich, wir wissen es bereits, rein gar nichts bewirkte, um dann etwas kräftiger an der Türe zu rütteln, wiederum -­‐ wie für uns abzusehen -­‐ ohne Erfolg. Daraufhin trat er nicht etwa gegen, sondern vor die Tür, um zu sehen, wo sie wohl am ehesten nachgeben würde, konnte aber keine Schwachstelle entdecken. Nun entsann auch er sich seines Universalwerkzeugs und begann bedacht, einige kleinere Stücke von der Tür abzuhobeln. Das schlechte Gewissen ob seiner zerstörerischen Tätigkeit half ihm bei der Behutsamkeit seiner Arbeit. Endlich schien ihm die Pforte williger geworden

zu sein, und tatsächlich, ein erneuter Druck triumphierte, die Tür sprang gleich ein Stückchen weit auf, um dann sanft von einem hinter ihr liegenden grünen Busch ihm unbekannter Art und Güte abgefangen zu werden. Es reichte, um sich hindurchzuzwängen. Ah! Sieg der Vorsehung über die Natur, durchfuhr es ihn. Einmal draußen angelangt, versuchte er sich langsam an die für seine Begriffe recht stickige Luft zu gewöhnen, wohl wissend, daß er die bekannte Frische definitiv oben zurückgelassen hatte; schwülwarm war es auch, kein Lüftchen wehte, und die Sicht war irgendwie leicht verschleiert. Der atmosphärische Unterschied, so bemerkte er verständig, war damals wohl der Hauptgrund für den Abbruch der gegenseitigen Besuche gewesen, er empfand das hiesige Klima als gewöhnungsbedürftig, aber durchaus nicht als unangenehm und konnte sich sogar vorstellen, des öfteren und längeren hier unten zu weilen. Er stellte den Konsum des Schamanentropfens einstweilen zurück und wartete noch ein Weilchen, bis er sich noch besser akklimatisiert und ein leichter Hustenreiz wieder nachgelassen hatte, den er sodann zum Anlaß nahm, sich mit Schrecken auszumalen, wie ihrerseits die Bodenbewohner ganz oben auf dem Dach der Welt ob des dortigen Reizklimas mit nachlassenden Kräften gnadenlos Wind und Wetter zum Opfer fallen würden, wobei er sich schnell damit tröstete, daß sie dann sicher vom Schamanen prophylaktisch oder auch kurierend mit einer witterungseffektsneutralisierenden Medizin versorgt werden würden. Derart beruhigt fand er sich schnell wieder im Vollbesitz seiner eigenen Kräfte und Konzentration und konnte sich umgehend auf den Weg machen, er war schon recht neugierig darauf, seine Vettern anzutreffen, früher oder später, aber wenn es so sein sollte, dann eben auch gar nicht. Nach kurzer Strecke auf dem alten hatte er bald einen neuen und größeren Pfad ausgemacht, offenbar von Menschenhand und -­‐fuß gestaltet, der ihn denn auch auf eine Siedlung zuführte, wieder einige Kilometer entfernt von den beiden, in denen seine älteren Brüder zur Stunde ihr Glück versuchten.

Die Hütten waren nach wie vor aus besagtem Holz gemacht, was er mit Dank zur Kenntnis nahm, wußte er nun doch, daß sie hier unten die gleiche große Ehrfurcht vor den Riesen teilten wie sie droben. Unser gestandener Jägersmann aus den Wolken wanderte also weiter direkt auf das Dorf zu, in dem Vertrauen, dort Menschen mehr noch als Tiere anzutreffen. Sein eigenes Augenmerk wandte sich bald von der Architektonik den Architekten zu, als er nahe genug heran gekommen war, um sie endlich zu sehen, seine Vettern! Etwas blaß um die Nase, bemerkte er lächelnd zu sich selbst, aber ansonsten hatten sie die gleiche Physiognomie wie seine eigenen Leute. Er versuchte gar nicht erst, ihren Gesprächen zuzuhören, denn dazu war er ohnehin zu weit entfernt; die Wortfetzen, die nichtsdestotrotz zu ihm herüberwehten, verrieten jedoch zumindest eine ihm bekannte Sprachmelodie. Er stellte gleich freudig fest, daß sie unbewaffnet waren, wie auch die Siedlung keinerlei Befestigung aufwies. Aufrechten Ganges schritt er würdevoll voran, bis ihn lautstark eine Horde spielender Kinder begrüßte, deren Geschrei denn auch die Gespräche der Erwachsenen übertönt hätte, wären jene nicht ohnehin ob der gänzlich unerwarteten Ankunft des Fremden plötzlich verstummt. Er winkte und lächelte ihnen freundlich zu und tat so, als wolle er sie mit seinen Händen einfangen, woraufhin die Schar gleich einem Vogelschwarm in vollem Fluge erst

auseinander-­‐ und dann wieder zusammenstob, währenddessen er sich zunehmend auf die größeren Bewohner konzentrierte, die ihm inzwischen immer zahlreicher werdend entgegenströmten. Seine Blicke auf zahlreiche Augenpaare verteilend, hatte er noch keinen solchen auf das Dorfinnere werfen können, schob sich nun seine Kapuze ganz aus dem Gesicht und begrüßte die versammelte Dorfgemeinschaft ehrerbietig. Ein älterer Mann trat ihm aus der Menge entgegen und erwiderte seinen Gruß. Er gebot dem Gast mit einer Geste, ihm zu folgen. So zog der ganze Troß ein paar Schritte weiter in eine überdachte Halle am Rande des Dorfplatzes, vorbei an einer als durchaus üblich zu bezeichnenden Ansammlung an Gerätschaften, einem Brunnen, sowie auf der anderen Seite einer überdachten Feuerstelle, die er ohne viel Federlesens als eine der sagenumwobenen Schmieden klassifizierte, von denen ihnen der alte Schamane erzählt hatte. Sie nahmen Platz auf angenehm weichen Matten aus ihm unbekannten Fasern, was ihm sehr gelegen kam, zehrte doch das ungewohnte Klima schon für sich und mangels Trankeshilfe auch nicht gerade weniger als bei seinen Brüdern an seinen Kraftreserven. Nach Austausch der gebotenen Begrüßungs-­‐ und Höflichkeitsfloskeln eröffnete er sodann der Versammlung, vom oberen Familienzweig zu stammen, um einmal persönlich im Rahmen eines Freundschaftsbesuches Land und Leute kennenzulernen, von denen er schon so viel gehört, aber noch nie etwas gesehen hatte. Er öffnete seinen Beutel mit den Gastgeschenken und legte sie dem Ältestenrat zu Füßen. Diese betrachteten die Waren zunächst

etwas mißtrauisch, dann aber mit wachsender Neugier, und, während einer von ihnen mit seinem Stock auf die verschiedenen Gegenstände zeigte, fragten sie ihn schließlich, um was es sich denn im einzelnen handele, was er ihnen denn auch gleich stolz und freudig zugleich erzählte. Angetan von den geschilderten Vorzügen der dargebotenen Köstlich-­‐ und Nützlichkeiten ließen sie es sich nicht nehmen, dieselben gleich auszuprobieren, und mußten dem Jüngsten in seinem Lobpreis des unnachahmlichen Geschmackserlebnisses beim Genuß der nun auch bei ihnen beliebten goldgelben süßen Früchte uneingeschränkt recht geben. So ließen sie denn auch ihm köstliche Speisen und Getränke reichen und freuten sich über sein Erstaunen, bei ihnen ebenfalls die verschiedensten kulinarisch unvergleichlichen Delikatessen genießen zu können. Lange fachsimpelten sie über ihre Lieblingsrezepte und fanden durchaus noch das eine oder andere traditionelle Mahl ähnlicher Zubereitung, wie sie sich überhaupt ob der diversen Gemeinsamkeiten und Unterschiede beiderlei Sitten und Gebräuche stets aufs neue verwunderten und amüsierten, wobei der Jüngste auch nicht vergaß, den unbekannten Treppenhausarchitekten anerkennend zu erwähnen und bei allem den Herrn der Welten zu loben, der sie hier alle so wunderbar zusammengeführt hatte. Der mittlerweile herbeigerufene Dorfschmied durfte sogleich die Metallveredelung ausprobieren und bemerkte sofort den unvergleichlich schönen Glanz, den die Tinktur auf seiner Schale hinterließ. Das eine oder andere Mittel gegen Rost und Gebrauchsspuren hatte auch er anzubieten, aber wenn die Angaben des Gastes stimmen sollten, würde der Saft von hoch oben tatsächlich eine deutliche Verbesserung nicht nur der Optik, sondern auch der Lebensdauer seiner Metalle bedeuten. Er ließ es sich nicht nehmen, dem Gast seine ganze Palette an Werken der schmiedenden Kunst zu zeigen, und suchte eine besondes schöne Feuerschale, wie sie sie auch hier unten verwendeten, als persönliches Geschenk für den Jüngsten aus, neben einer weiteren veredelten für seinen Hohen Fürsten. Jener bedankte sich auf höflichste und lud sie alle ein, bald einmal zu ihnen nach oben zu kommen. So redeten sie über die mögliche gegenseitige kulturelle Befruchtung und wechselseitige Bereicherung des Alltagslebens durch die Güter der jeweils anderen Ebene; doch sahen sie beide auch Gefahren in einer vorbehaltlosen Vermischung und Gleichmacherei sowie in der Tendenz einiger namentlich nicht genannter Stammesmitglieder, die alten Grenzen durch Machtspiele gewaltsam verändern zu wollen, eine unangenehme Eventualität, die sich dann zum Nachteil aller Beteiligten von der horizontalen auf die vertikale Ebene ausweiten könnte. So wurde denn vorgeschlagen, die ihnen bekannten Aufgänge bis auf einen von oben und unten zu versiegeln, um Gerüchten über Invasionen sowie etwaigen tatsächlichen feindseligen Absichten gleich vorzubeugen. Zugleich sollte mit Gottes Hilfe eine langsame diplomatische Annäherung unternommen werden, indem man sich in regelmäßigen Abständen abwechselnd oben und unten treffen und zum Zeichen der guten Absicht und Freundschaft jeweils Metalltinkturen und Früchte gegen Feuerschalen oder ähnliche Utensilien austauschen wollte. Hocherfreut über diese erste Begegnung der beiden Familien nach so vielen Jahren überkam Wirte wie Gast eine große Müdigkeit, und sie zogen sich allesamt zur Ruhe zurück.

Nach erfolgreichem Schläfchen, er wußte nicht, nach wie langer Zeit, erwachte der Jüngste, verabschiedete sich alsdann von seinen Verwandten und begab sich dank seines erfahrenen Spürsinns direktemang zurück zum Treppenbaum. Erleichtert machte auch er sich gemächlich und gar nicht mehr müde auf den steilen Heimweg.

 

© Der Cyber-­‐Mönch ISBN-­‐13: 978-­‐8490156377